Meine Oma wurde nach dem zweiten Weltkrieg aus Schlesien nach Deutschland vertrieben. Es kommen zwar keine Handys vor, und der Weg ist sehr viel kürzer als der eines Heimatvertriebenen aus dem Libanon, aber es hat sich dennoch erschreckend wenig geändert. Hier einige Auszüge. Wir schreiben das Jahr 1945.
“In den letzten Kriegstagen waren in unserem Haus viele deutsche Soldaten einquartiert.”
“Mein Vater hat dann kurz vor dem Einmarsch der Russen noch versucht, mit Pferd und Wagen mit der Familie zu flüchten. Das gelang aber nicht, da die Straßen mit Flüchtlingen verstopft waren und wir bereits in einem Kessel der Russen saßen, der nicht mehr zu durchbrechen war. ”
“Am 17. März 1945 nachmittags gegen 17 Uhr marschierten die Russen auf unseren Hof. Der Krieg war damit für uns zu Ende, und es begann die dramatischste Zeit unseres Lebens.”
“In den folgenden Tagen strömten die Flüchtlinge von den Straßen in die Häuser. So kamen auch in unser Haus eine ganze Anzahl Flüchtlinge. Dann begann der Horror und hielt über Monate an. Nacht für Nacht kamen die Russen in unser Haus und holten sich Frauen und Mädchen, um sie zu vergewaltigen. In ihrer Angst und Not rückten die Frauen eng zusammen. Wir krochen alle zusammen in einen Raum. In unserer großen Küche lagen die Frauen auf der Erde, auf den Bänken, unter den Bänken und unter dem Tisch. Ich lag ganz hinten unter der Bank, wo es am sichersten war. Wir hatten furchtbare Angst um meinen Vater. Er setzte sich auf einen Stuhl von innen vor die Küchentür. Wenn die Russen kamen, mussten sie ihn wegschieben und –drücken, um hereinzukommen. Unsere Befürchtung war, dass sie ihn deswegen erschießen würden. Ich erinnere mich, dass auch ein 17-jähriges Mädchen von den Flüchtlingen bei uns im Kartoffelkeller von den Russen ganz brutal vergewaltigt wurde. Die Frauen und Mädchen machten sich so hässlich wie möglich. Sie zogen alte Kleider an und bedeckten Kopf und Gesicht mit Tüchern. Aber auch das half ihnen nicht. Ich erinnere mich, dass ich später, als die Flüchtlinge wieder weg waren, in gleicher Weise hässlich gemacht nachts im Stroh versteckt in der Scheune schlief. So bin ich gottlob nie vergewaltigt worden, und meine Mutter auch nicht.”
” Ich war noch keine 11 Jahre alt und sehr groß für mein Alter. Darum hatte meine Mutter viel Angst um mich.”
“Sie [die Russen] sprachen deutsch und erklärten meiner Mutter: Sie haben in ihrem Haus Waffen versteckt. Wenn wir sie finden, werden Sie alle erschossen! Meine Mutter brachte händeringend und verzweifelt zum Ausdruck: Wir haben keine Waffen! Glauben Sie mir doch! Die Mutter und wir zwei Kinder standen im Hof weinend an die Hauswand gelehnt und schrien zu Gott um Hilfe, den sicheren Tod vor Augen. Denn irgendetwas Belastendes würden sie bestimmt finden, was möglicherweise die vielen Russen, die unser Haus bereits durchkämmt und durchsucht hatten, hinterlassen haben könnten. Nach einer halben Ewigkeit, die wir voller Angst und Todesfurcht verbrachten, kamen die Russen aus dem Haus und hielten meiner Mutter ein Kästchen mit verschiedenen Orden unter die Nase, die zum größten Teil noch von meinem Großvater waren, der in der Feuerwehr, im Kirchenchor und in anderen Vereinen geehrt worden war. Damit zogen sie ab und ließen uns am Leben.”
“Wir lebten in ständiger Angst, weil wir fortwährend der Willkür der Russen ausgesetzt waren, ein Spielball in ihren Händen, mit bösen Absichten, mit ihren Launen und Rachegelüsten gegenüber den Deutschen.”
“Bereits auf der Jalta-Gipfelkonferenz der drei späteren Siegermächte Russland, USA und England vom 4. – 11.2.1945 wurde als polnische Ostgrenze die Oder-Neiße-Linie vereinbart und die Polen vorbehaltlich einer endgültigen Festlegung auf einer Friedenskonferenz die deutschen Ostgebiete zugesagt. Unsere schlesische Heimat wurde also den Polen zugeteilt. Für uns nahte sich ungefähr im Mai/Juni 1945 eine neue, schlimme Zeit der Drangsal. Es kamen zwei polnische Brüder mit ihren Frauen ins Haus, die nun die Herren waren und unserer Familie lediglich zwei Zimmer überließen. Sie beschlagnahmten alle unsere Vorräte. Aus dem noch verbliebenen Getreide produzierten sie Schnaps.”
“Was die Russen uns noch gelassen hatten oder was sie nicht im Versteck gefunden hatten, das nahmen uns die Polen nun weg. Die vergrabenen Gegenstände im Backhaus oder die eingemauerten Wertsachen unter der Kellerrteppe im Haus waren von den Russen und Polen aufgespürt und entwendet worden. Mein Vater hatte speziell mir, da ich die Älteste war, alle diese Verstecke gezeigt für den Fall, dass ihm etwas zustoßen sollte. Ein noch verbliebenes Versteck befand sich auf dem Heuboden. So ereignete sich folgendes: Ein Pole nahm mich ganz allein (ich war damals 11 Jahre alt) mit auf den Heuboden, auf den vom Hof aus eine eigene Treppe führte. Er wollte von mir das Versteck im Heu herausbekommen, was mein Vater mir im Vertrauen gezeigt hatte. Der Pole versuchte es mit allen Mitteln, mir das Geheimnis zu entlocken. Auf der Treppe zum Heuboden küsste er mich und versuchte es mit süßen Tönen, mich zum Verrat zu verführen. Als er damit nichts erreichte, drohte er mir und versuchte, mir Angst einzujagen. Durch seine Küsse war ich so angewidert, dass jegliche Angst von mir wich und ich fest entschlossen war, meinen Vater nicht zu verraten und sein in mich gesetztes Vertrauen nicht zu enttäuschen. Ich weiß noch ganz genau meine damalige Empfindung und den festen Entschluss und war dabei ganz sicher und furchtlos, als ich dachte: Und wenn du mich umbringst, ich verrate Dir das Versteck nicht, weil ich meinen Vater nicht verraten werde. Dieser feste Entschluss gab mir 11-jährigem Kind eine vorher nie gekannte Kraft und Furchtosigkeit. Als er nichts erreichte, gab er es auf.”
“Es kamen Polen in unser Haus und befahlen uns: In 10 Minuten müssen Sie das Haus verlassen!!! Wir konnten uns nur schnell anziehen und das Nötigste zusammenpacken. In meiner Seele hat sich eingeprägt, dass ich in unserer Haustür stehend laut geschrien und Gott um Hilfe angefleht habe. Schlagartig waren Existenz, Sicherheit, Geborgenheit, Heimat, alles Vertraute weg. Wir waren ins Ungewisse, Bodenlose, ins Nichts geworfen. Der Boden unter unseren Füßen war uns buchstäblich entzogen. Es gab nichts Schützendes mehr. Ein Trost war uns verblieben. Wir waren noch beieinander, Eltern und Kinder. Doch die Zukunft war dunkel und ungewiss. Keiner wusste, ob es ein zurück gab. Doch alle glaubten daran, weil niemand den Gedanken ertrug, für immer der seit Jahrhunderten angestammten Heimat beraubt zu werden, vertrieben von Haus und Hof.”
“Eines Tages brachten unsere Tante Edeltraud und unser Vetter Ansgar Müller, die in der Stadt Neisse ausgebombt waren und in dem Ort Heinersdorf in der Nähe der Kasematten unterbracht waren, eine große Milchkanne voll warmer Suppe für die ganze Verwandtschaft. Das war wichtig für unser Überleben. ”
“Am 18. Januar 1946 wurden wir alle in einen Viehwaggon verladen. Auf dem Boden lag noch der Mist von den Tieren, die vorher darin transportiert worden waren. Wir hatten Glück, dass es Pferde waren und keine Schweine, deren Gestank uns noch übler zugesetzt hätte. Die einzelnen Waggons wurden so vollgestopft mit Menschen, dass nur wenige einen Platz zum Sitzen auf dem Boden fanden. Ungefähr eine Woche lang wurden wir von Neisse bis nach Forst an der Görlitzer Neiße (normalerweise eine Fahrt von wenigen Stunden) durch die Gegend geruckelt. Nachts fuhr der Zug, am Tag stand er meistens. Dann machten die Vertriebenen mit Papier ein Feuer und schmolzen in einem Topf etwas Schnee, um Wasser zum Trinken zu haben. Die Schikanen waren zahlreich: Ruckartiges Fahren, stundenlanges Stehenbleiben des Zuges in der tief verschneiten Landschaft, streng bewacht, kaum zu essen, und wieder bekam jeder Waggon ein Brot zugeteilt. Das Wachpersonal durchsuchte das wenige Gepäck der Menschen und stahl, was ihnen gefiel. Keine Möglichkeit zu schlafen, kein wärmendes Bettzeug. An der Görlitzer Neiße endete die Fahrt auf polnischer Seite. Die Brücke über die Neiße war gesprengt worden. Es gab nur eine Behelfsbrücke für Fußgänger. Als alle aus den Waggons stiegen, lud man auch die Toten des Transports aus. Es waren in erster Linie alte Menschen, Säuglinge und Kleinkinder, die diese Todesfahrt nicht überlebt hatten. Den Säuglingen waren die Windeln am Po festgefroren. Die Männer des Transports mussten in Bombentrichtern die Toten verscharren. Eine alte Frau, die Großmutter einer Familie mit drei Kindern aus unserem Dorf, konnte nicht mehr allein gehen und lag im Sterben. Sie wurde von den Polen kurzerhand noch lebend mit in das Massengrab geworfen.”
“Als die vielen Menschen über die Neißebrücke kamen, schrien die Russen auf der anderen Seite: Zurück, zurück! Sie wollten uns nicht aufnehmen. Die Polen hatten uns ausgewiesen, und die Russen wiesen uns ab. Nach langem hin und her fanden sie eine Lösung: Vorübergehend wurden wir in Forst/DDR in dem Saal des Hotels Kaiserhof untergebracht bis entschieden war, was mit uns geschehen sollte. Dann wurden wir in verschiedene Auffanglager verteilt und dabei von der Familie unserer Tante Martha getrennt. Mit Wuttkes zusammen kamen wir in das Lager Finsterwalde. Dort bolieben wir insgesamt neun Wochen. Es war ein Lager mit großen Räumen und vielen Stockbetten übereinander. Jede Nacht, wenn das Licht gelöscht wurde, kamen die ständigen Bewohner aus den Bettritzen gekrochen und quälten die Menschen mit ihren Bissen. Durch die reichliche Ernährung mit Menschenblut vermehrten sich die Wanzen prächtig und blieben ständig unsere Quälgeister in der Nacht. Am Tage aber machte sich die Mangelernährung, d.h. der Hunger bemerkbar. Es gab für jeden täglich eine Tasse wässriger Suppe und eine Scheibe Brot. Das war alles. Zum Leben zu wenig, zum Sterben zu viel. Wir hatten Hunger. Die Folge davon war, dass die Menschen Löcher in den Lagerzaun schnitten und in die umliegenden Dörfer zu den Bauern betteln gingen. Es waren zu viele hungrige Menschen im Lager. Das Betteln nahm deshalb überhand, so dass die Bauern die Hunde auf die Menschen hetzten und nichts mehr gaben. Der Radius um das Lager wurde deshalb immer weiter gezogen. Einmal bin ich mit Maria Wuttke in ein ca. 5-8 km entferntes Dorf zum Betteln gegangen. Wir klopften an einem Haus an, an dem ein Türschild besagte, dass dort ein Töpfer wohnte. Die Leute waren freundlich zu uns und sagten: Wir können Ihnen nichts mitgeben, aber Sie können sich hier am Tisch bei uns sattessen. Das werde ich nie vergessen, weil ich damals dachte und empfand: Jetzt ist er Himmel auf die Erde gekommen. Diesen Leuten werde ich mein Leben lang dankbar sein.”
“Es stellte heraus, dass ich so stark gewachsen war, dass mir das einzige Sommerkleid, das ich besaß, nicht mehr passte. Es war viel zu kurz. Meine Mutter ging mit dem Kleid von Haus zu Haus und fragte die Leute, ob sie vielleicht ein passendes Stück Stoff hätten, womit man das Kleid verlängern könnte. Tatsächlich bekam sie einen grünen Stoffstreifen geschenkt, der es ermöglichte, dass ich das Kleid noch einen Sommer lang tragen konnte.”
“Ich weiß noch, dass ich dankbar empfand, dass wir alle vier noch lebten und beisammen waren und dass wir in Freiheit waren. Die Freiheit, die ich als gerade erst 12-jährige so stark empfand und die mir so viel bedeutete, war für mich das wichtigste Gut. Nicht die Freiheit, wie man sie heute versteht, frei von Vorschriften und Bevormundungen Erwachsener zu sein und tun zu können, was einem passt, selbst wenn es dem anderen wehtut oder die Freiheit des anderen einschränkt.
Ich meine und schätze die Freiheit über alles, nicht mehr der Willkür von Menschen ausgesetzt zu sein, die den anderen missachten, ihn bösartig quälen und ängstigen, ja nach Belieben töten können. Ich meine die Freiheit, nachts schlafen zu können, ohne auf der Lauer zu liegen, dass Fremde an die Tür pochen und mein Leben bedrohen. Ich meine die Freiheit, denken und sagen zu können, was ich denke, ohne in ständiger Angst zu leben vor Diktatoren und Despoten. Diese Freiheit ist mir mehr wert als alles Hab und Gut, das, wie ich ja erfahren habe, einem restlos genommen werden konnte.”
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